Untrennbar ist die Geschichte der Wartburg mit der kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands verbunden. Als historische Stätte und Baudenkmal von bundesweitem Rang lockt sie jährlich tausende Besucher an. Einzigartig ist die zeitliche Spanne der kulturwissenschaftlich bedeutsamen Entwicklungen, die von den Persönlichkeiten ausgingen, die hier gewirkt haben.
So erlebten Architektur, Literatur und bildende Kunst bereits im Hohen Mittelalter unter Ludwig II. und seinem Bruder Hermann I. eine erste und für die kulturelle Entwicklung deutscher Fürstentümer wichtige Blütezeit. Beide Brüder hatten in Paris studiert und dort die Kultur der Troubadours sowie die bahnbrechenden bautechnischen Errungenschaften der französischen Gotik kennengelernt. Sowohl die überlieferten Sagen und Legenden um den Sängerkrieg auf der Wartburg als auch die hier entstandene Literatur sind ohne diesen Kulturimport aus Frankreich nicht denkbar.
Das Leben der heiligen Elisabeth, die als ungarische Fürstentochter auf die Wartburg kam und sich nach dem Tode ihres Gemahls Ludwigs IV. zu einem Leben in Armut, Demut und christlicher Nächstenliebe entschloss, führte zu einer zeitlich wie räumlich weitreichenden Verehrung, die sich in Legenden-Texten und in bildkünstlerischen Darstellungen niederschlug.
Eine weitere wichtige Etappe der Wartburg auf dem Weg zum Denkmal von nationaler Bedeutung ist der Aufenthalt Martin Luthers 1521/22, währenddessen er reformatorische Schriften verfasste und das Neue Testament in die frühneuhochdeutsche Sprache übersetzte. Wenngleich zu dieser Zeit keine musikalischen Impulse von der als Nebenresidenz kaum bewohnten Festung ausgingen, so wirkte doch der reformatorische Impuls mit allen gesellschaftlichen und kulturellen Folgen umso stärker. Dass der berühmte Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ bis heute mit der Wartburg assoziiert wird, ist mit Blick auf Luthers Aufenthalt in Eisenach sehr verständlich, allerdings ist das Lied nicht vor 1529 entstanden.
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verfiel die Burg mehr und mehr. Sie geriet erst 1817 mit dem ersten Burschenschaftsfest wieder in den Fokus der Geschichtsschreibung. Zuvor hatte bereits Goethe mehrfach den Weg zur Burg gefunden und dort inspirierte Zeiten verbracht; er hat sich auch als einer der ersten bemüht, den historischen Wert der Burg zu verdeutlichen.
Mit der ab 1853 einsetzenden Renovierung und der damit verbundenen historisierenden Umgestaltung der Wartburg wurde die Eisenacher Erinnerungskultur fortgesetzt. Die Feste wurde nach 1871 sogar zu einem Denkmal erhoben, dessen Symbolkraft die ausstehende innere Reichsgründung vorantreiben sollte. Bis zur Jahrhundertwende feierten Künstler wie Franz Liszt oder Richard Wagner den ganz im Sinne der Romantik umgestalteten Burgkomplex und brachten wiederholt die Geschichte rund um die Wartburg zur Darstellung, so beispielsweise mit der Aufführung von Listzts Oratorium zum Leben der heiligen Elisabeth anlässlich der 800-Jahr-Feier im Jahr 1867. Der Komponist selbst hatte zuvor sein Fachwissen bei der Ausgestaltung des Festsaales eingebracht.
Die kostbare und farbenfrohe Neueinrichtung der Räume mit Malereien, Fresken und Interieur ist von außerordentlichem Wert. Aus diesem Grunde werden sie als Museum und als häufig nachgefragter Ort für Konzerte und Kulturveranstaltungen genutzt. Als erstes deutsches architektonisches Ensemble wurde die Wartburg zum UNESCO Weltkulturerbe erhoben.
Wartburg Eisenach
Walther von der Vogelweide (um 1170 – 1230)
Palästinalied
Entstehungsort: unbekannt
Entstehungsjahr: 13. Jahrhundert
Elisabeth-Ballade
„De engel van dem hymmel“
Entstehungsort: vermutlich Thüringen
Entstehungsjahr: 14. Jahrhundert
„Plus bele que flor”
(Codex Montpellier)
Entstehungsort: Frankreich
Entstehungsjahr: 13. Jahrhundert
Magdeburger Frühlingslied
„Ich setzte mînen fuoz“
Entstehungsort: vermutlich Thüringen
Entstehungsjahr: 13. Jahrhundert
Klangkulturen der Wartburg von
Walther von der Vogelweide bis zur Elisabeth-Ballade –
Drei Wege ihrer Rekonstruktion
Die vorliegenden Aufnahmen wollen Klangwelten zu Gehör bringen, die mit dem UNESCO Weltkulturerbe der Wartburg in Verbindung gebracht werden können. Aufgrund der langen Geschichte dieses Ortes wäre es gut möglich gewesen, Musik aus sehr verschiedene Epochen darzubieten. Das Projekt konzentriert sich indes aus guten Gründen auf das 13. Jahrhundert, fallen doch in diesen Zeitraum mit der Ausbildung eines literarischen und musikalischen Zentrums unter Landgraf Hermann und mit dem Wirken der Elisabeth von Thüringen zwei Ereignisse, die für die Geschichte Ostmitteldeutschlands von zentraler Bedeutung sind.
Jedem Versuch, die historische Relevanz der Wartburg im Hochmittelalter anhand von soundscapes zu unterstreichen, steht jedoch die spärliche Quellenlage entgegen. Da archivalische Zeugnisse, die direkte Aufschlüsse über das musikalische Repertoire an den weltlichen Höfen des 13. Jahrhunderts geben könnten, fehlen, müssen andere Wege begangen werden, um zu rekonstruieren, was zu dieser Zeit in der Eisenacher Residenz der Thüringer Fürsten gesungen oder gespielt werden konnte.
Eine erste Methode besteht darin, die Nennungen von Gönnern und Auftraggebern in literarischen Texten des 12. und des frühen 13. Jahrhunderts mit Blick darauf auszuwerten, welche Autoren und Dichterkomponisten von den Landgrafen engagiert oder zumindest unterstützt worden sind. Der prominenteste Dichterkomponist, der auf diese Weise mit Eisenach in Verbindung gebracht werden kann, ist der Minnesänger und Sangspruchdichter Walther von der Vogelweide, der gleich mehrfach den hof ze Düringen und den Landgrafen nennt; seine Werke sind in diesem Projekt mit dem sog. Palästinalied vertreten, das zu den berühmtesten Stücken aus der Lyrik des frühen 13. Jahrhunderts zählt. In ihm greift Walther von der Vogelweide das im 12. und 13. Jahrhundert oft verhandelte Thema der Kreuzzüge ins Heilige Land auf. Im Unterschied zu Texten der Zeit, die sich aggressiv und in hochgradig abwertender Weise über konkurrierende Glaubensgemeinschaften und ihre Repräsentanten äußern, setzt Walther von der Vogelweide ganz auf die Kraft der Argumente, die er im Wesentlichen aus dem Neuen Testament bezieht. Diese Besonderheit des Liedes, mehr dem rationalen Diskurs zu vertrauen als der Verunglimpfung der Gegner, zeigt sich am besten in einer Version, die sich in der sog. Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (Heidelberg, UB: cpg 357) findet. Im Rahmen des Wartburg-Projektes wird eine gekürzte Fassung dieses Textes (mit der charakteristischen Schlussstrophe) zum Klingen gebracht.
Ein zweites Verfahren, sich den Thüringer Musikwelten des 13. Jahrhunderts anzunähern, macht sich den Umstand zu Nutze, dass die mittelalterlichen Lyrikhandschriften anhand ihrer sprachlichen Merkmale erkennen lassen, in welchem geographischen Raum sie entstanden. Auf der Grundlage solcher sprachhistorischen Untersuchungen lässt sich auch das Frühlingslied lch sezte mînen fuoz sehr präzise nach Thüringen lokalisieren. Ob dieses Stück am Landgrafenhof erklang, ist nicht sicher bezeugt; jedoch war die Wartburg aufgrund ihrer Bedeutung als kulturelles Zentrum gewiss der prädestinierte Ort, an dem auch elaboriertere Vertreter des Minnesangs aufgeführt werden konnten. Zu diesen zählt ohne Zweifel auch dieser Liedton, der sich durch einen komplexen reimreichen Strophenbauplan und eine anspruchsvolle Melodie auszeichnet. Der Text ist leider nur bruchstückhaft erhalten; die überlieferten Verse lassen jedoch erkennen, dass das Lied in der Nachfolge Walthers von der Vogelweide und Neidharts den Lobpreis auf das Frühjahr mit dem Thema ‚minne‘ verbindet. Insofern passt es sehr gut zu dem Wirken Walthers von der Vogelweise in Thüringen. Bei der Aufnahme dieses Stückes handelt es sich um eine Ersteinspielung.
Der dritte Weg zurück in die Eisenacher Musikkultur setzt an bei dem Umstand, dass über historische Personen des Thüringer Hofes lyrische Texte verfasst worden sind. Besonders bekannt geworden ist ein Erzähllied über den Landgrafen Ludwig und seine Ehefrau Elisabeth. Dieses hat sich zwar nur in einer Handschrift des 15. Jahrhundert aus dem Kloster Wienhausen erhalten, greift aber eine Legendenbildung auf, die letztlich im direkten Umfeld Elisabeths entstanden sein dürfte. Das Stück greift wie das Palästinalied die Kreuzzugsthematik auf, wendet diese jedoch ins Sentimentale. Es motiviert den historisch bezeugten Entschluss der Landgräfin, dem höfischen Leben zu entsagen, aus einer Erzählung, die das Faktum, dass Ludwig auf dem Kreuzzug verstarb, mit Motiven verbindet, die aus der Tradition der Schauerballaden und Liebesromanzen stammen. Eine Melodie hat sich in dem Wienhäuser Codex leider nicht erhalten; jedoch ist der Text in einer sehr weit verbreiteten Strophenform, dem sog. ‚Halben Hildebrandston‘, verfasst, die im Spätmittelalter mehrfach mit verschiedenen Melodien versehen wurde. Das Wartburg-Projekt greift auf eine Melodie des Straßburger Dichters Heinrich Laufenberg zurück, die sehr gut mit dem Wienhäuser Text unterlegt werden kann und in ihrem Charakter vorzüglich zu Elisabeth-Ballade passt; dieses musikalische Experiment wird hier ebenfalls zum ersten Mal gewagt.
Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel