Renaissance geht kaum überzeugender: Die Wilhelmsburg Schmalkalden begeistert durch ihre originale Raumstruktur, Wandmalereien und Stuckaturen. Wo anderswo im 19. Jahrhundert überformt und umgebaut wurde, herrscht hier die pure Stiltreue aus der Erbauungszeit von 1559-1585, als die Nebenresidenz der hessischen Landgrafen durch Wilhelm IV. dem Weisen von Hessen-Schmalkalden im südthüringischen Städtchen errichtet wurde.
Reizvolle Perle der Wilhelmsburg ist die Schlosskapelle, in der sich das protestantische Glaubensbekenntnis in der Architektur widerspiegelt: Orgel, Kanzel und Altar sind vertikal in einer Achse gebaut und zeigen die Gleichwertigkeit von Musik, Wort und Sakrament an. Die 1590 erbaute Schwalbennestorgel von Daniel Meyer aus Göttingen gehört zu den ältesten noch bespielbaren Holzorgeln der Welt und löst unter Orgelkennern Begeisterungsstürme aus. Sie wurde von Wilhelm IV. dem Weisen von Hessen-Kassel in Auftrag gegeben und umfasst ganze 252 Holzpfeifen. Besonders ist unter anderem der Vogelschrey, eine mit Wasser befüllbare Holzpfeife, die das Singen einer Nachtigall nachahmen soll. Auch der Tremulant, der die gezogenen Register in apartes Beben versetzt, sucht seinesgleichen. Ein Glockenspiel rundet die „Specials“ der Orgel ab, die zu damaliger Zeit zur Ausstattung dazu gehörten.
Dem umfassend gebildeten Sohn des Erbauers der Wilhelmsburg, Moritz Landgraf von Hessen-Kassel, ist es zu verdanken, dass die Entwicklung der Musikgeschichte deutscher Fürstentümer einen Quantensprung machen konnte: Er eröffnete 1594 die erste Kasseler Druckerei, die für den Notendruck von großer Bedeutung war und begeisterte sich für die Theaterkunst der Engländer. Der erste feste Theaterbau Deutschlands wurde 1606 in seinem Auftrag fertiggestellt und kein geringerer als der bedeutende englisch Komponist John Dowland spielte für immerhin zwei Jahre in seiner Hofkapelle, die durch ihn einen erheblichen Ausbau erfuhr. Auch Schmalkalden profitierte von dieser kulturellen Blüte, denn der naturwissenschaftlich und alchemistisch gebildete Landgraf hielt sich oft in seiner geliebten Nebenresidenz auf, wo er Nebengebäude errichtete und einen großen Terrassengarten anlegen ließ.
Schloss Wilhelmsburg, Schmalkalden
Moritz Landgraf von Hessen-Kassel (1572–1632)
Fuga à 4 in a, MWV VII, 14
aus: „Compositioni leggiadi à suonare con voci overo stromenti al organo“
Entstehungsort: vermutlich Kassel
Entstehungsjahr: unbekannt
Heinrich Schütz (1585–1672)
„Mein Herz ist bereit“, SWV 341
aus: „Symphoniae sacrae II, Op. 10“
Entstehungsort: Dresden
Entstehungsjahr: 1647
Moritz Landgraf von Hessen-Kassel (1572–1632)
Canzon à 4, Nr. 22, MWV VII, 15
aus: LB Kassel 4° Ms. Mus. 98a, Nr.22
Entstehungsort: vermutlich Kassel
Entstehungsjahr: unbekannt
Moritz von Hessen-Kassel (1572–1632):
Ein Segen für die Musikgeschichte
Moritz von Hessen-Kassel – „der Gelehrte“ – bekam nicht zu Unrecht diesen Namen verliehen, denn er gehörte zu der Generation hervorragend ausgebildeter protestantischer Herrscher, die im 16. Jahrhundert nach den Wirren der Reformation ihre Länder mit der Kraft ihres Verstandes und guter Bildung zu leiten verstanden.
Die sorgfältige musikalische Erziehung der jungen Fürstensprösslinge gehörte zu damaliger Zeit zum grundlegenden Fächerkanon dazu und so lernte der junge Fürst die Regeln des Kontrapunktes ebenso wie das Lautenspiel und hinterließ der Nachwelt eine große Anzahl an zumeist vokalpolyphonen Werken, nicht wenige davon in deutscher Sprache und konservativ im stile antico und der venezianischen Mehrchörigkeit komponiert.1 Psalm- und Magnifikatvertonungen, Motetten, Villanellen, weltliche und geistliche Chorsätze und ein umfassendes Cantional mit Kirchenliedern sowie deutsche geistliche Lieder gehören zu seinen Kompositionen und zeigen die enorme religiöse und politische Bedeutung des Singens in der nachreformatorischen Zeit. Auch seine Instrumentalwerke (Fugen, Canzonen, Pavanen, Galliarden und Intraden zu vier bis acht Stimmen) sind von der vokalen Musizierweise geprägt. Sie sind in der Bibliothek Kassel bis heute als Handschriften in Stimmbüchern oder als Einzelstimmen erhalten.
Doch der Fürst interessierte sich nicht nur für die Musik, sondern war auch in allen damals relevanten Wissenschaften und weiteren Künsten bestens bewandert. Er gab im Sinne seiner Universalbildung auch alchemistische Experimente in Auftrag, lernte verschiedene Sprachen und betrieb Astronomie und Naturwissenschaften. Auch auf den Gebieten der Theologie, Philosophie und Architektur sowie Rhetorik, Dichtkunst und Theater wurde er ausgebildet und pflegte diese Bildung auch während seiner Herrschaft.2 Im Alter von 15 Jahren hatte er seine Abschlussprüfung an der Universität Marburg abgelegt und begann im gleichen Jahr beim neuen Hofkapellmeister Georg Otto aus Torgau seine musikalische Ausbildung in der Gesangskunst, an Orgel und Laute.
Vier Jahre nach seinem Amtsantritt 1592 machte er die Hofkapelle finanziell von der Staatskasse unabhängig, indem er den Musikantennverlagk gründete, der aus den Einnahmen der Saline Soden gespeist wurde.3 Bemerkenswert ist, dass Moritz von Hessen-Kassel neben der Hofkapelle noch ein Ensemble englischer Musiker beschäftigte, was den internationalen Ruf seiner Gönnerschaft weiter festigte und das Niveau beträchtlich anhob. In der Zahl der ihm gewidmeten Werke spiegelt sich dieser Ruf wider. Solche Widmungen sind bei Michael Praetorius, Heinrich Schütz, Melchior Frank und Hans Leo Hassler zu finden – allesamt protestantische Komponisten, die den „Soundtrack“ zum Protestantismus und auch zum Dreißigjährigen Krieg lieferten.
Seine maßgebliche Bedeutung für den Verlauf der Musikgeschichte erlangte Moritz von Kassel jedoch durch die enorme Sammlertätigkeit von zeitgenössischen Musikdrucken und Handschriften, ebenso wie durch die Gründung des Collegium Mauritianum. Hier wurden nicht nur adlige Schüler aufgenommen, sondern auch bürgerliche Kapellknaben ausgebildet, beispielsweise die Söhne der Hofmusiker – so auch Heinrich Schütz, der seinen Bildungsweg mit Hilfe des Fürsten in Italien bei Giovanni Gabrieli weiterführen konnte. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass aus dem unbekannten Schüler einer der wichtigsten Komponisten Mitteldeutschlands wurde.
Gertrud Ohse